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50 Jahre St. Pauli – gesehen und fotografiert. Kiezleben und leben lassen.

Einladung

Rückseite

Die Formatierungen der Laudatios werden derzeit überarbeitet. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Laudatio

Laudatio 19. Juni 2015 -Nissis Kunstkantine-

 

Ausstellung „Kiez leben und leben lassen“

 

mit Werken von Günter Zint

 

Liebe Freunde der Kunstkantine,

 

ich darf Sie jetzt begrüßen zu der Vernissage für die Werke von

 

Günter Zint.

 

Günter Zint ist der 15. Künstler, den Nissis Kunstkantine zeigt, seit ihrer Eröffnung im März 2013. Wenn ich eben gesagt habe, dass wir mit Günter Zint den 15. Künstler ausstellen, dann regt sich bei Günter Zint schon der Widerspruch. Er bezeichnet sich selbst als „Gebrauchsfotograf“ und ist der Auffassung, es sei viel wichtiger, was man fotografiert, als womit man fotografiert. Die beste Kamera wäre, die, die man im entscheidenden Moment dabei hat.

 

Tja, meine Damen und Herren ist das nun Kunst, was wir hier an den Wänden sehen oder nicht ? Sie, meine Damen und Herren, denken jetzt bestimmt, jetzt quatscht uns der Typ gleich voll mit lauter Begriffsdefinitionen zum Kunstbegriff und das ohne sich vorzustellen. Dann will ich das gleich mal nachholen.

 

Mein Name ist Bernd Roloff, ich bin der Keynote-Speaker der Kunstkantine und habe heute die Aufgabe, etwas zur Ausstellung von Günter Zint zu sagen, die unter dem Motto

 

„Kiez leben und leben lassen“

 

steht und die hier in der Kunstkantine von heute an bis zum 15. Juli zu sehen ist. Meine Laudatio wird lang und launisch und entspricht nicht der Standardform für eine solche Rede. Um es mit Jimmy Hendrix zu sagen :

 

“I am not a jukebox. We have time, there is no big rush.”

Mit diesen Zitaten habe zugleich auf eines der wichtigen Fotos dieser Ausstellung hingewiesen, das Foto von Jimmy Hendrix

 

aufgenommen im Star Club 1967. Das Foto hat durchaus eine aktuelle Relevanz. Das Rolling Stone Magazine hat gerade wieder die Liste der besten Gitarristen aller Zeiten veröffentlicht. Tja, und wer ist immer noch Nummer 1, vor Eric Clapton und Keith Richards ? Richtig es ist Jimmy Hendrix. Auf dem Foto klar erkennbar : Hendrix hält die Gitarre, eine Fender Stratocaster, verkehrtrum, in der Linkshänderspielweise. Hendrix spielte erratisch, eben noch lässig und selbstbewußt, in der nächsten Sekunde explosiv, extatisch und zugleich virtuos. Wenn man das Foto auf sich wirken lässt, scheint Hendrix gerade in einer Phase zu sein in der es gleich richtig losgehen wird. Pete Townsend huldigt im Rolling Stone den künstlerischen Verdiensten von Jimmy Hendrix, schreibt aber auch über die hedonistische Ader von Hendrix, der er zum Ende seines Lebens freien Lauf lies. Das Ende des Lebens kam für den Gitarristen Nr. 1 schon 1970, also 3 Jahre nachdem dieses Foto aufgenommen wurde.

 

Ein Redakteur vom Art Kunstmagazin hat die Fotos von Günter Zint als „Zeitzünderfotos“ bezeichnet. Ich glaube, das trifft es ganz gut. Günter Zint sieht sich nicht als Künstler, sondern als Dokumentarist. Aber das, was er abbildet wird mit der Zeit und gegebenenfalls auch mit Wechsel der politischen Großwetterlage zu Zündstoff. In einem seiner Fotobände, der bezeichnenderweise mit „Zintstoff“ betitelt ist, sind beispielsweise Fotos von den Polizeieinsätzen in Sachen Atomkraftwerk Brokdorf. Man kann es heute in den Zeiten der sog. „Energiewende“ nicht mehr glauben, mit welcher Intensität und Brutalität der Staat damals gegen die kritische Bevölkerung vorging. Heute hat die Atomlobby ausgespielt, damals wurden im Interesse der Atomlobby Tränengasgranaten aus Hubschraubern auf Demonstranten abgeworfen. Es entwickelten sich regelrechte Schlachten mit der Polizei, bei denen Günter Zint übrigens mehrere Kameras einbüßte.

 Damit ist zugleich gesagt, dass Günter Zint es liebt, das Schlachtengetümmel, worin es auch immer bestehen mag, als Teilnehmer und nicht nur als Beobachter zu dokumentieren. Sein Freund, Wegbegleiter und Geschäftspartner Günter Wallraf, wir erinnern uns, der Mann der bei Bild Hans Esser war, meint, dass die Bilder von Zint nicht voyeuristisch sind, sondern, da Zint Teil des Geschehens ist, aus der Perspektive des Betroffenen dokumentieren. In puncto „Sankt Pauli, Kiez leben und leben lassen“ trifft das nur zum Teil zu.

Hier in der Ausstellung findet sich beispielsweise das Foto „Straßenszene in der Hein-Hoyer-Straße“ das zweifellos die Perspektive eines „Gaffers“ wiedergibt. Und dass ist auch gut so, denn wer will schon Bestandteil dieser Szene sein.

 

 Wie ich finde, ein Bild, das schon auf den ersten Blick eine erzählerische Grundperspektive wiedergibt, an die sich diverse unterschiedlich Assoziationen durch den Rezipienten anknüpfen lassen. Wir erinnern uns an die Ausführungen von Umberto Eco in seinem Werk „Opera Aperta“, wonach das Werk dadurch zum Kunstwerk wird, dass es vom Betrachter aus seiner subjektiven Sichtweise aufgenommen wird. Dies ist zweifellos ein Foto, das mehr bietet, als das reine Seherlebnis. Was ist dem Mann, der am Bordstein zusammen gebrochen ist, passiert? Ist er nur gestürzt? Wohl nicht, denn die Polizei ist vor Ort. Warum hat ihm niemand aufgeholfen? Die Personen auf dem Bild scheinen nicht sozial randständig zu sein, sondern tragen bürgerliches Outfit. Ist ihr Entsetzen so groß, dass sie sich lieber nicht einmischen wollen? Wo bleibt die angebliche Solidarität der Kiezbewohner?

 Wobei wir gleich bei der Frage sind, ob es tatsächlich eine reale Tatsachengrundlage dafür gibt, dem Stadtteil Sankt Pauli im Bereich der Reeperbahn und seiner Nebenstraßen eine „Kiezromantik“ anzudichten. Überall auf der Welt sind junge Leute mit T-Shirts anzutreffen, auf denen der Schriftzug „Sankt Pauli“ abgedruckt ist, vorzugsweise mit Piratenlogo, d. h. Totenschädel und zwei gekreuzte Knochen darunter. Jeden Tag werden auf Sankt Pauli Busladungen mit Touristen abgeladen, die auf der Suche sind, nach etwas methaphysischem, einem Spirit, einer Stimmung, einem Lebensgefühl, gewürzt mit etwas Schmuddeligkeit und einer Prise Action. Tja meine Damen und Herren, auch aus der Perspektive eines Hamburgers oder vielleicht gerade deswegen, vermag ich da nicht viel zu finden, vielleicht weil ich nie Interesse hatte, mit Sankt Pauli viel in Berührung zu kommen, schon gar nicht in irgendeiner Weise, wie Günter Zint, Teil des Geschehens zu werden.

 Hand aufs Herz meine Damen und Herren, wer will schon in Sankt Pauli seine Kinder zur Schule schicken, seine Einkäufe dort erledigen oder sieht es als Ort an, in dem irgendwelche Daytimeaktivitäten stattfinden. Sankt Pauli ist in allererster Linie ein Ort, an dem Geschäfte stattfinden, Sankt Pauli ein Ort, in dem Leute, teilweise aus der zweiten Reihe der Gesellschaft, ihr Glück machen wollen.

Hiergegen ist nichts zu sagen, wenn es ihm Rahmen der Gesetze stattfindet. Eine Legende ist z.B. Willi Bartels, der in jungen Jahren ein Lokal erbte und durch Immobilienentwicklung und Spekulation zum Donald Trump von Sankt Pauli wurde mit einem geschätzten Nachlass von über einer halben Milliarde Euro.

 Das Image als millieutreuer Gutmensch half sicherlich dabei, nicht als rücksichtsloser Grundstückspekulant zu gelten und mit dem Empire Riverside Hotel übersetzt

 „Imperium am Flusslauf-Hotel“

 setzt man sich dann noch ein schönes Denkmal auf die Skyline. Willi Bartels ist auch ein Beispiel für die Ambivalenz der Politik.

 Heute gibt es Bestrebungen Prostitution zu verbieten. Begründet wird dies damit, dass mancherorten „Großbordelle“ entstehen. In diesem Kontext ist es doch bemerkenswert, dass Willi Bartels seinen geschäftlichen Durchbruch als Immobilienentwickler hatte, indem er das erste Großbordell baute, nämlich das sogenannte „Eros-Center“ und die Politik in Hamburg dies doch sehr begrüßte, weil sich dadurch die Straßenprostitution verringern sollte, die man als störend für das Stadtbild und das Image von Sankt Pauli empfand.

 In dieser Ausstellung finden sich einige historische Fotos aus der Sex- und Prostituierten-Szene. René Durand, bekannt als Spiritus Rector des Salambo und Domenica die vollbusige Domina mit melancholischem Gesichtsausdruck sind in Teilportraits identifizierbar, gewissermaßen als Ikonen einer vergangenen Zeit, vielleicht auch einer Parallelgesellschaft ohne Bürgerlichkeit.

 Dass es auf Sankt Pauli Parallelgesellschaften ohne Bürgerlichkeit und ohne Kiez-Romantik, dafür aber mit viel krimineller Energie gibt, muss ich wohl nicht länger ausführen. Die Bekämpfung der organisieren Kriminalität und des Nepps muss oberstes Ziel von Polizei und Behörden sein.

 Die kriminelle Realität von Sankt Pauli spielt sich nicht nur in den Parallelgesellschaften ab, sondern hat die Tendenz überzuschwappen. Riesenschlagzeilen machten in den 80er Jahren Auftragsmorde im Zuhältermilieu und immer wieder entstehen schädliche Machtgefüge durch Gangs wie die Hells Angels. Wenn mann glaubt, als alteingesessener Geschaftsmann auf Sankt Pauli seine Ruhe zu haben, kann mann sich sehr täuschen. Schutzgelderpresser machten selbst nicht vor dem bereits seit mehr als 100 Jahren existierendem Restaurant Cuneo halt.

 Sankt Pauli und das Kiezleben sind mit Vorsicht zu genießen. Andererseits, was wäre Hamburg ohne Sankt Pauli? Es ist der weltweit berühmteste Stadtteil von Hamburg. An jedem Abend steht er den Hamburgern und den Angereisten für jede Art von Vergnügungsdrang zur Verfügung. Hier kann man richtig einen drauf machen. An den Wochenenden sogar rund um die Uhr in sog. Frühklubs, die erst um 4 Uhr morgens ihre Pforten öffnen. Musicals und Theater laden zu populärkulturellen Aufführungen ein und an vielen Stellen ist Sankt Pauli regelrecht schick geworden. Dafür, dass es so kommen wird, ist manchmal ein selbstzerstörerischer Effekt ursächlich. Eine Art evolutiver Selbstgentrifizierung. Beispiel : Die ohnehin schon baufälligen sogenannten Esso-Häuser, zweifellos ein ästhetischer Schandfleck, wurden 2013 durch laute Konzerte einer Rockband aus einem Musikclub so erschüttert und ihrer Reststruktur so beschädigt, dass die Bewohner evakuiert werden mussten und danach die Abrissbirne kam. Übrigens mein lieber Günter, die Band, die die Esso-Häuser zum Einstürzen brachte, stammte aus dem Wendland und engagierte sich dort ebenso wie du, in der Anti-Atombewegung. Es handelt sich um die hochtalentierte Band „Madsen“, die ich übrigens sehr schätze. Drei Brüder aus dem Wendland, die tatsächlich Madsen heißen, plus Gefolge. Ich habe sie dreimal live gesehen.

 Meine Damen und Herren, bei jedem von der Kunstkantine ausgestellten Künstler interessiert mich immer, was das erste geschaffene Kunstwerk war und wie es dazu kam. Aus dem Meer aller Möglichkeiten, die es für ein Werk gibt, drängt den Künstler eine spezifische Inspiration dazu, etwas umzusetzen, zu produzieren und zumeist physisch wahrnehmbar werden zu lassen. Über dich, lieber Günter, ist da eine verhältnismäßig profane Geschichte bekannt. Dein erstes Foto, das abgedruckt wurde, zeigte einen Dackel und eine Ente, die aus demselben Napf fressen. Es wurde schon 1954 in der Fuldaer Zeitung abgedruckt und es gab dafür für dich 5 Mark an Honorar. Die Zeit meiner Laudatio langt nicht hin, jedes weitere Highlight aus deiner Biografie darzulegen und zu würdigen. Für mich am bemerkenswertesten ist die Gründung und erfolgreiche Vermarktung der „Sankt Pauli-Nachrichten“, als linkes Boulevardblatt, das zeitweise eine Millionenauflage erreichte und in dem wirkliche High Potentials wie Stefan Aust mitarbeiteten. Und dann die Souveränität zu haben auch auszusteigen, wenn man konzeptionell das Blatt nicht mehr mittragen will, dass macht einen -Pardon- Künstler doch gerade aus.  

 Im künstlerischen Kontext darf ich euch noch auf ein ganz hervorragendes Foto der Ausstellung aufmerksam machen.

Ich meine dieses hier mit dem Titel „Vatertag in der Davidstraße“:

Faszinierend zunächst der dünne Mann ganz rechts auf dem Bild. Sieht aus wie eine Statue von Giacometti :

Der dünne Mann führt ein Mädchen an der Hand, das in ein paar Jahren ein typisches Modell des Frankfurter Hyperrealisten Philipp Weber sein könnte und der Passant, der ein Verkehrsschild umarmt ist eine so stereotype Darstellung eines Betrunkenen, das er sich für eine ironische Kitschpostkarte aus Sankt Pauli als sehr geeignet erweist :

 

Ich schlage als Slogan für die Postkarte „Sankt Pauli gibt Halt“ vor.

Günter Zint gibt seinerseits Sankt Pauli halt. Es ist ein Stadtteil, der sich im dynamischen Wandel befindet. Besonders der Eingang der Reeperbahn von der Stadt aus hat sich völlig verändert. Neues Wahrzeichen dort sind die tanzenden Türme. Auch ansonsten wird überall geplant und gebaut.

Günter Zint erfüllt mit seinem enormen Bestand an Sankt Pauli-Motiven tatsächlich die Aufgabe, das Vergangene zu dokumentieren. Je mehr auch eine szenische Wiedergabe erfolgt umso mehr kann auch der Zeitgeist einer Epoche für die nächsten Generationen festgehalten werden.

 

Nissis Kunstkantine zeigt hier nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus dem umfassenden Werk in dieser Hinsicht. Sofern Sie eines der Werke aus der Ausstellung erwerben wollen, steht Ihnen meine Frau Nissi, die Namensgeberin der Kunstkantine zur Verfügung.

 

Sie können auch gerne mit dem Künstler am nächsten Freitag, den 26.06.2015 mit dem Künstler in seinen Geburtstag hineinfeiern. Die Kunstkantine serviert am nächsten Freitag ab 19.00 Uhr ein leckeres Hummermenü. Für Reservierungen wendet euch bitte ebenfalls an meine Frau Nissi.

 

Liebe Freunde der Kunstkantine, ich darf euch nun zur Entdeckung der Ausstellung auffordern. Wer schon einmal durch ist, besieht sich die Fotos vielleicht doch noch mal unter dem Gesichtspunkt „Kunst oder Dokumentation“. Interessant ist auch die Frage, wann bei einem Foto das künstlerische beginnt. Wir haben in dieser Laudatio 2 Straßenszenen besprochen. Hier beginnt für mich das künstlerische schon in der Motivwahl. Andererseits kam auch ein Jimmy Hendrix vor, bei dem das Drama, das emotionale Gepäck, insgesamt der Kontext erst in späteren Zeiten entstand und immer noch aktuell ist.

 

Ich wünsche euch in diesem Sinne noch eine interessante Diskussion und eine entspannte Zeit heute Abend in Nissis Kunstkantine. Vielen Dank fürs Zuhören.  

Bernd Roloff

Vernissage der Ausstellung "50 Jahre St. Pauli – gesehen und fotografiert. Kiezleben und leben lassen."

Exponate der Ausstellung "50 Jahre St. Pauli – gesehen und fotografiert. Kiezleben und leben lassen."

Nissis Kunstkantine

Kunstgalerie & Eventlocation
Am Dalmannkai 6
20457 Hamburg (HafenCity)

Mo – Fr 12-16 Uhr
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